Leseprobe

Auch wenn ich einen Zettel mit einer Rostocker Adresse in der Gesäßtasche hatte – die Straße hieß erstaunlicherweise Fischbruch –, war an ein Wiedersehen am nächsten Tag noch nicht zu denken, also zog ich wieder mit Jens los, dem ich gesagt hatte, ich hätte Geld am Strand verloren. Ich wollte die Stelle von gestern abend wiederfinden. Leider sah im Hellen alles ganz anders aus und war schon wieder überformt von der amorphen Masse der Badegäste. Ich sprang kurz ins Wasser, aber es machte keinen Spaß. Es kam mir plötzlich albern vor, inmitten von zehntausend Landratten in der Ostsee herumzuplantschen, und Jens maulte, weil er keine Lust auf improvisierte Strandgänge hatte. Entweder richtig mit Fußball, Liegedecke und Proviant oder gar nicht.

Da wir aber irgendwas machen mußten, ließ ich meinem Bruder die Wahl, und er lotste mich weg vom Strand in den gepflasterten Teil des Städtchens, auf die Promenade am Alten Strom, wo sich die Cafés, Eisbuden, Spielzeug-, Ramsch- und Souvenirläden aneinanderdrängten, als wollten sie auf fünfhundert Metern den ganzen Westen übertrumpfen. Das gefiel ihm, er war nicht nur der Routine, sondern auch dem Materiellen zugetan, was zeigte, daß er eben doch noch ein Kind war, wenn auch ein fast ausgewachsenes.

„Eh, guck mal, das Flugzeug da, das brauchen wir.“

„Hier ist kein Flugzeug,“ erwiderte ich.

„Das weiße da doch, Mann, das mit der Strippe.“ Er zeigte auf eine Verpackung in der Auslage des Ladens, vor dem wir standen.

„Das ist ein Lenkdrachen. Der kostet bestimmt zwanzig Mark. Ich hab grade zwanzig Mark verloren.“

„Na das paßt doch genau. Gib mal her.“

„Ver-lo-ren hab ich gesagt, rede ich denn gegen die Wand? Kauf dir das Ding von deinem Taschengeld.“ Neben uns stritten sich zwei Möwen um ein Stück Brot, dann kam eine dritte, schnappte es ihnen weg und flog davon.

„Du spinnst doch, das hast du doch nur gesagt, weil du baden wolltest oder so. Kein Mensch verliert einen Zwanzigmarkschein. Wenn, dann verliert man das ganze Portemonnaie. Du bist überhaupt so komisch, was ist denn los?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern stellte sich breitbeinig mit den Händen in den Taschen vor das Schaufenster, beugte sich zur Auslage hinunter und nannte mir den Preis, der sich übrigens in Grenzen hielt. Zehn Mark fünfunddreißig oder so, ich war nicht ganz bei der Sache. Ab und zu blitzten Lippen, Augenbrauen und Sommersprossen vor mir auf, nachtgrau auf weißer Haut, und Gretes kullerndes Lachen fuhr durch meine Gedanken wie ein Gitarrensolo.

„Ach komm, Mensch, du hast viel mehr Geld als ich,“ bettelte Jens.

Ich seufzte. „Halbe-halbe, okay?“

„Du bist ein ganz fieser Kunde. Na gut.“

Auf die gleiche Art leierte er mir noch Geld für eine schwarz-rote Schirmmütze aus dem Kreuz, mit der er aussah wie einer von Donald Ducks Neffen, dann verkündete er: „Jetzt gehen wir Eis essen, mein Freund.“

„Ich bin nicht dein Freund. Außerdem ist jetzt Mittagszeit, und du brauchst was Herzhaftes.“ Jens machte es einem nicht schwer, in die angestammte Rolle des großen Bruders zurückzufinden, was manchmal ganz beruhigend war. Tatsächlich mußte man ihm auch ab und zu Grenzen setzen, sonst wurde er immer kindischer und fiel in Verhaltensweisen zurück, die er sich unter der Aufsicht unserer Eltern längst abgewöhnt hatte.

Leider hatte ich selbst gar keinen Hunger, mein Bauch sehnte sich in die Ferne ohne große Lust auf Verdauung, aber Jensers Organismus mußte gefüttert werden. Also gingen wir in die große Freßbude am Bahnhof, eine Baracke mit mehreren Schaltern und Freisitz direkt neben dem Gleis, wo die grünen Doppelstockzüge aus Rostock ankamen und eine Weile herumstanden, bevor es zurückging, als wollten auch sie mal kurz Urlaub machen in Warnemünde. Am liebsten wäre ich in die nächste S-Bahn gesprungen und in die Stadt gefahren, aber das ging leider nicht, ich hatte ja die Aufsicht über meinen kleinen Bruder. Wir kauften also eine Fischbulette, eine Limo und für mich nur einen Kaffee.

„Seit wann trinkst du denn Kaffee?“ fragte Jens kauend.

„Schon immer.“

„Haha, du Witzbold. Darf ich mal kosten?“

Ich schob ihm die klobige Porzellantasse hin, er nahm einen Schluck, den Mund noch halb voll mit Bulettenmasse, und spuckte dann mit einem angewiderten Laut Kaffee, Fisch und Paniermehl neben dem Tisch vorbei auf den splittbedeckten Erdboden.

Ich nahm ihm die Tasse wieder weg. „Du wirst auch nicht erwachsen, was?“

Jens schüttelte den Kopf und sah mich mit großen Augen an wie Watzlawskis Dackel. Watzlawskis waren unsere Nachbarn im Gartenverein. „Mm-mm.“

„Soll das denn immer so bleiben?“

Er nickte, und ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, kniff zu und schüttelte ihn ganz leicht. Seine Schulter war knochig, Jens bestand aus viel Energie und wenig Masse. Nebenan auf dem Gleis startete mit Klackern und Räuspern ein Dieselaggregat und tuckerte sich warm für die nächste Fahrt. Die Möwen begannen unsere Fischreste vom Boden aufzupicken, unten am Alten Strom scharrten die Fischerboote an ihren Liegeplätzen, und eine teerige Brise wischte den Urlaubern auf der Brücke die Haare ins Gesicht.

„Immer,“ sagte Jens auftrumpfend. „Und du auch.“

*

*

Die Züge aus Rostock hatten damals schwere 118er Maschinen vorgespannt, erdbeerrot mit schmutzigweißen Streifen, und meist standen zwei von ihnen mit leerlaufenden Dieselmotoren parallel am Prellbock, hundert Meter vor der Wasserkante, und öttelten leise vor sich hin. Auf der Rückseite des Bahnhofsgebäudes gab es keine Prellböcke, dort liefen die Gleise als breiter Strang weiter auf das Gelände des Fährhafens und dort in einem wahnwitzigen Knäuel von Weichen zusammen in eins, das direkt ins Hafenbecken stürzte, das konnte man sogar vom Bahnsteig aus sehen. Und quer über den Bahnhofsvorplatz ging eine Zubringerstraße für die Autos, die aufs Schiff nach Dänemark wollten.

Man mag mich für einen besonders verklärten Zeitgenossen halten, aber ich habe tatsächlich vergessen, wie die Staatsgrenze damals genau aussah; bis heute ist es mir nicht eingefallen. Ich weiß nur, daß da eine Grenze gewesen sein muß, sonst wären wir schon längst mal in Dänemark gewesen. Die Westautos mußten am Bahnhof vorbei auf ihrem Weg zum Schiff, da keilten sich die DDR-Bürger, wenn die S-Bahn gerade angekommen war, und zehn Meter weiter stand die Softeismaschine. Daß da irgendwo ein Schlagbaum war, eine rot-weiß gestreifte Schranke, habe ich noch dunkel in Erinnerung, aber was kam dahinter, wie wurde die Grenze bewacht und wie der Bahnsteig? Was hinderte uns, einfach in den Zug nach Gedser einzusteigen? Stand da irgendwo ein Posten mit Maschinenpistole? Ich kann mich nicht erinnern. Was wäre passiert, wenn ich einfach in Richtung Fähre weitergegangen wäre?

Vielleicht hätten mich plötzlich auftauchende Grenzsoldaten gejagt, Gewehr im Anschlag, und dann von hinten erschossen. Vielleicht wäre man im Hafenbecken gelandet, umkreist von Haien mit Dollarzeichen in den Augen und Uncle-Sam-Hüten auf dem Kopf wie in den Karikaturen der Leipziger Volkszeitung. Oder in einem geheimen Arbeitslager im Bauch des Schiffes, zusammen mit Altnazis und Körperverletzern.

Wer liberal aufgewachsen ist, kennt das nur aus Berichten über archaische Stammesgesellschaften, mit leichtem Schaudern bestaunt: ein Tabu, etwas, das man nicht berühren darf und von dem man besser überhaupt nicht redet und nie gehört hat. Die Regeln sind streng, die Strafen hart, und gleichzeitig gibt es ein dichtes Netz organisierter, lebenslanger Bindung, dem niemand entkommt, es sei denn, er möchte als Ausgestoßener eine Randexistenz fristen, als Verrückter gar.

Verrückt wollte ich nicht sein, auch wenn die Songtexte in meinem Kopf von crazy über mad und insane bis zu just about to lose my mind alle Varianten des seelischen Haltverlierens kommentierten. Aber zu glauben, daß mich das Verrücktsein anzog, wäre ein großes Mißverständnis. Wer den Blues singt, beschwört die bösen Geister, um sie loszuwerden.