Ist das Thema DDR überhaupt noch interessant? Ein befreundeter Verleger schrieb mir, es wäre „durch“, und da ist sicher etwas dran. Bei vielen, die in Ostdeutschland aufgewachsen sind, verblaßt die Erinnerung, vor allem die emotionale. Und für die Nach-1989er sind wir jetzt die Alten mit ihrer irrelevanten Vorgeschichte, „reptilienhaft urtümlich und politisch außer Konkurrenz wie die Eidechsen im Wallgraben.“ Die Altersgrenze, ab der jemand den größeren Teil seines Lebens „im Osten“ verbracht hat, rückt immer höher.
Aber vielleicht macht es gerade diese Distanz lohnenswert, das damalige Leben und Erleben noch einmal zu durchleuchten, mit geringerer Betroffenheit und damit der Chance auf unvoreingenommene Erkenntnis. Denn unsere kollektive Wahrnehmung scheint mir immer noch seltsam zwei- oder sogar dreigeteilt.
Da ist der spöttische Blick auf die DDR als Skurrilitätenkabinett und ihre Führer als Witzfiguren. Er hat inzwischen fast ausgedient, und sicher war er auch eher eine Abwehrreaktion gegen die eigene emotionale Verstrickung. Auf diese Art läßt sich nämlich über jede Epoche witzeln, und keiner wird man damit gerecht; denn die Lebenden nehmen ihr Leben immer ernst.
Dann, gewichtiger, die Nostalgie, die das Wir-Gefühl beschwört und der Süße und Einfachheit eines Daseins unter Vormundschaft hinterhertrauert. Wie ungebrochen die Sehnsucht danach ist, zeigt sich an der Unterstützung, die autoritäre politische Bewegungen heute in Deutschland, Rußland, Polen, Ungarn erfahren… die Liste ließe sich fortsetzen. Und auf der anderen Seite der Kampf Staat gegen Opposition, ein unmenschliches System der Aus- und Abgrenzung mit bisweilen tödlichen Folgen für diejenigen, die versucht haben auszubrechen.
Wie paßt das zusammen, und ist eines ohne das andere denkbar? Was waren das für Menschen, die damals ihr Leben gelebt haben, waren sie glücklicher, ängstlicher, verbohrter, gebeugter oder selbstsicherer als wir heute? Und was sind es für Menschen, die heute noch so leben, in anderen Teilen der Welt? Können wir von ihnen lernen und aus unserer Vergangenheit?
Natürlich ist in „Krügers Blues“ viel Autobiographisches eingeflossen. Manche Szenen sind skizzenhaft schon vor mehr als zehn Jahren entstanden, lange bevor die Handlung des Romans feststand. Aber es ist nicht meine Geschichte. Literatur ist ein Spiel mit Möglichkeiten, und ich glaube, daß Ähnliches möglich gewesen wäre, von den allzu phantastischen Elementen und der Beschränkung auf wenige Protagonisten abgesehen, die jeden Plot vom Leben unterscheiden.
Ein Literaturagent hat mich nach der Durchsicht des Manuskripts gefragt, was der Leser aus diesem Roman eigentlich mitnehmen solle; jedes Buch müsse doch einen Gewinn bescheren, so daß man sich hinterher sagt: Ja, dafür hat es sich gelohnt, bis zum Ende zu lesen. Wäre es nicht besser, den Konflikt zurückzunehmen und das Ende glücklicher, unbeschwerter zu gestalten, es gar zu der Komödie zu machen, die manche Szenen in den ersten Kapiteln suggerieren?
Mir war damals der Gedanke suspekt, daß Kunst vor allem dazu da sein soll, dem Publikum zu geben, was es sich wünscht. Ich glaube, daß Literatur unter ihren Möglichkeiten bleibt, wenn sie sich nur dieser Aufgabe verschreibt. Unterhaltung ist ein legitimes Bedürfnis, aber auch eins, an dem wir keinen Mangel leiden und das die bildgewaltigen elektronischen Medien viel besser befriedigen können als jedes Buch; wer nur unterhalten werden will, greift in der Regel nicht zum Roman. Gute Literatur kann dem Leser vielleicht eher etwas geben, das er braucht und von dem ihm nicht bewußt war, daß es wichtig sein könnte. Dafür ist das Medium Buch geeignet wie kein anderes.
Ich würde sagen, daß mein Roman vor allem eine Frage an den Leser stellt: Wie hättest du dich an Ralf Krügers Stelle verhalten? Es ist eine sehr persönliche Frage, eine, die mehr berührt als der Mordfall in einem Krimi, wo die Regeln des Genres besagen, daß man sich vom Geschehen distanzieren darf. Insofern hoffe ich, eine berührende Geschichte geschrieben zu haben.